Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht von 1938

Vor der ehemaligen Synagoge in der Ahauser Innenstadt

                                               (Fotos: Stadt Ahaus, Canisiusstift Ahaus, Wilhelm Wilming)

 

Rede der stellvertretenden Bürgermeisterin

Maria Woltering

 

Vortrag des Schülersprechers und .....

Erinnerungen an die Reichspogromnacht in Ahaus von Erich Gottschalk (geb. 1915)

vorgetragen am 09.11.2023 

 

Erich Gottschalk wuchs in der Bahnhofstraße auf. Wie schon sein verstorbener Vater verdiente er den Lebensunterhalt durch Viehhandel. 

Erich Gottschalk gehört zu den wenigen jüdischen Überlebenden aus Ahaus. Und so konnte er später von der schrecklichen Novembernacht 1938 berichten, die er als junger Mann erlebte. 

 

Dazu bemerkte er: „Es ist nicht leicht, darüber zu sprechen. Man wollte und will es vergessen, doch es geht nicht.“


 

 "Am 9. November 1938 war ich 23 Jahre alt. Ich lebte mit meiner Mutter zusammen in der Bahnhofstraße. Mit meinem Vetter Emil Gottschalk in der Kreuzstraße betrieb ich einen Viehhandel. Um 11.00 Uhr an diesem Abend kam Ludwig Fiegenbaum, mein damaliger Friseur, mit sechs SA-Leuten zu uns. Sie sagten, sie müssten nach Waffen suchen, was nur ein Vorwand war. Im Haus trafen sie auf meine Mutter. Ludwig Fiegenbaum sagte: „Was sollen wir bei der Witwe?“ Und nach diesen Worten gingen sie auch wirklich.

 

Um 12.00 Uhr hörte ich Brandsirenen. Ich ging auf die Straße, da kam mir mein Freund Josef Grimstein entgegen. Er war damals bei der Feuerwehr. Ich sagte: ‚Jupp, wat is loss?‘ Er zögerte aber. Erst nachdem ich ihn mehrmals hart angesprochen hatte, sagte er mir: ‚Die Synagoge brennt.‘

Daraufhin ging ich mit meiner Mutter zum Vetter. Wie wir in der Kreuzstraße ankamen, brannte das Licht und ein SA-Mann stand an der Stalltür. Er wollte mich nicht ins Haus lassen, doch ich drückte ihn zur Seite und rannte nach oben. Ich sah noch, wie mein Vetter alle Schubladen öffnete. Seine Frau saß mit ihren Kindern im Bett.

Die SA-Leute riefen zu mir: ‚Was willst du Judenbengel denn hier?‘ Dann flog ich sechskantig die Treppe runter, denn gegen so viele konnte ich mich nicht halten.

Unverletzt ging ich mit meiner Mutter nach Hause. Innerhalb der nächsten zwei Stunden flogen durch das Schlafzimmerfenster meiner Mutter alle Pfähle der Wäscheleine.

 

Um 2.00 Uhr morgens brachen dann sechs SA-Leute durch die hintere Tür im Haus ein. Ich bekam den Befehl, innerhalb von drei Minuten mich anzuziehen und mit ihnen zu gehen. Eine Begründung wurde nicht genannt oder vorgespielt. Dann kam der Satz, der mich skeptisch machte.  Einer sagte zu meiner Mutter: ‚Kriegst deinen Sohn nicht mehr zu sehen.‘ Ich ging aufs Ganze und blieb im Zimmer auf einem Rohrstuhl mit dem Rücken zur Wand sitzen. Jeder der SA-Männer hatte aus der Synagoge von der Brüstung eine Holzsäule in der Hand. Sie schlugen mit sechs Mann auf mich ein. Ich wehrte mich zwar, aber es war sinnlos. Als sie mich für tot hielten, ließen sie mich liegen. Den letzten aber, das war der einzige Ahauser − die anderen kamen aus Gronau −, schnappte ich mir und schmiss ihn aus dem Fenster. Ich war überall angeschwollen und voll von Blut. Mein linkes Auge hing halb heraus.

 

Von meiner Mutter aus sollte ich sofort mit dem Fahrrad nach Holland fahren, das wollte ich aber nicht. Im Haus war alles zerstört. Ofen und alle Schränke waren umgeschmissen. Einen Handkarren voll Scherben brachte ich aus dem Haus.

 

Gegen halb 9 am Morgen darauf kam der Polizist Koch zu mir und meinem Vetter. Wir sollten bei Löwenstein die Schaufenster mit Brettern zunageln, was wir dann auch machten. Von der Familie Löwenstein haben wir keinen gesehen. Als wir, nun sechs Mann geworden, den letzten Nagel ins Holz geschlagen hatten, kam der Polizist wieder.

Er war ein rechtschaffener Mann, der seinen Befehl kaum aussprechen konnte. Wir sechs sollten in Schutzhaft genommen werden. Wir wurden im Spritzenhaus (früher Spritzenhüsken genannt) eingesperrt.

 

Am zehnten Tag erfuhren wir, dass wir am nächsten Morgen mit einem Transport zu einem KZ gebracht werden sollten. Das erfuhren wir ebenfalls von dem Polizisten Koch.

Doch wir hatten viel Glück. Ein Vetter aus Enschede kam mit einem Visum aus Holland. Das Visum trug einen Stempel von der Königlichen Marine aus Holland. Es galt für das ganze Münsterland. Mein Vetter aus Holland ist mit diesem Visum im Münsterland von Gefängnis zu Gefängnis gefahren und hat viele befreit.

Meine Mutter blieb aber hier und ist in ein KZ gekommen und vergast worden. In meiner Familie teilten 50 Angehörige das Schicksal meiner Mutter.

 

Ich selber bin in Holland zunächst 12 Tage in Veenhuizen in Drenthe gewesen. Es war ein Schwerverbrechergefängnis, wo sie uns unterbrachten. Dann kam ich ans Meer in ein Flüchtlingslager in Hellevoetsluis. Dort hatten wir es besser.

Am 15. Juni 1939 bin ich illegal aus Holland eingeschifft worden. Die Fahrt ging nach Palästina (heute Israel). Diese Flucht wurde von Juden organisiert. Ich brauchte auch nichts zu bezahlen. Das Schiff war ein Kohlenbunker.

In der Nacht vom 13. auf den 14. Juli sprangen wir vor Palästina ins Meer, weil man uns im Hafen nicht sehen durfte. Mit auf dem Schiff waren sogar schwangere Frauen,

die aber mit dem Boot an Land gebracht wurden.

 

2 Gulden 50 Cent hatte ich am Anfang, mit denen ich drei Tage leben konnte. Ich hatte in Palästina zwar Bekannte, wurde aber schnell an einem Hof angestellt, weil Melker damals gesucht waren.

14 Tage später brach der Krieg aus. Von 1939 bis 1960 lebte ich dann in Israel und konnte mir nicht vorstellen, wieder nach Ahaus zu ziehen.

1959 aber kam ich zu Besuch nach Ahaus. Ich wollte sofort hier bleiben. Und 1960 zog ich dann wieder in die Heimat."

 

Erich Gottschalk lebte keine Minute mehr ohne Schmerzen.

Die Bandscheibe, die in der Pogromnacht zerschlagen wurde, war unheilbar geschädigt. Keine 50 Meter konnte er mehr laufen. Er sagte: „Nur im Schlaf bin ich ohne Schmerzen." Dennoch war er zufrieden. Mit dem Wissen, wie es anderen Juden im Dritten Reich ergangen ist, sagte er: „Mir ist es noch sehr gut gegangen."

Erich Gottschalk kehrte im Alter mit seiner Familie von Ahaus nach Israel zurück. Er ist 1989 in Israel gestorben, mit 74 Jahren.